Inno­va­ti­on und Marktforschung

Markt­for­schung im Inno­va­ti­ons­pro­zess – Absi­che­rung oder Inspirationsquelle?

Bei mei­nen Refe­ra­ten rund um das The­ma „Inno­va­ti­on in der Ener­gie­wirt­schaft“ wer­de ich häu­fig kri­tisch auf mei­ne Emp­feh­lung zur Nut­zung von Markt­for­schung ange­spro­chen. Die Teil­neh­mer bemer­ken zu Recht, dass es wenig Sinn macht, von Befrag­ten mehr als inkre­men­tel­le Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge zu erwar­ten. Typi­scher­wei­se beur­tei­len die Nut­zer von Pro­duk­ten bzw. Ver­brau­cher im Rah­men ihres Wis­sens­ho­ri­zon­tes; etwas völ­lig Neu­es mani­fes­tiert sich hier nur sehr, sehr selten.

Das Miss­ver­ständ­nis:

Die kri­ti­sche Sicht auf die Rol­le der Markt­for­schung bei Inno­va­ti­on und Krea­ti­vi­tät nährt sich vom all­täg­li­chen Erle­ben von Markt­for­schung bzw. der Viel­zahl von Umfra­gen und Stu­di­en, die dem Ener­gie­wirt­schaft­ler als Lek­tü­re ange­bo­ten wer­den. Vie­le Semi­nar­teil­neh­mer visua­li­sie­ren dabei die Vor­stel­lung von Befra­gun­gen mit geschlos­se­nen Fra­ge­bö­gen; also der Typ von Markt­for­schung, der uns nahe­zu wöchent­lich am Tele­fon begeg­net: „Haben Sie 10 Minu­ten für eini­ge Fra­gen zum The­ma XYZ?“. Der­ar­ti­ge Cati-Inter­views (com­pu­ter aided tele­pho­ne inter­view) kom­bi­nie­ren geschlos­se­ne und offe­ne Fra­gen, zum Teil in Form einer Ska­len­be­wer­tung, um zu einer sta­tis­ti­schen Aus­wer­tung zu kommen.

Einer der wesent­li­chen Vor­tei­le die­ser Tech­nik ist die Mög­lich­keit, ab einer gewis­sen Zahl von Befrag­ten, auf die Grund­ge­samt­heit, bei­spiels­wei­se alle Ver­wen­der zu schlie­ßen (Stich­wort Reprä­sen­ta­ti­vi­tät). Auch wenn eine Füh­rungs­ebe­ne immer wie­der die Fra­ge stellt, wie vie­le Pro­zent der Ver­wen­der, bereit wären, das neue Pro­dukt zu kau­fen – ein­fach um eine Manage­ment-Ent­schei­dung abzu­si­chern – so sind Ant­wor­ten dar­auf „mit Vor­sicht zu genießen“.

Nütz­li­che For­schung und feh­ler­haf­te Inter­pre­ta­ti­on — ein Bei­spiel aus der Nahrungsmittelindustrie

Anfang der 2000er nutz­te ein bekann­ter Her­stel­ler von Tief­kühl-Fer­tig­ge­rich­ten eine sol­che Erhe­bung, um die Ver­brau­cher zu Farb­stof­fen, Geschmacks­ver­stär­kern und Zusatz­stof­fen zu befra­gen. Die Markt­for­schung zeig­te ein kla­res Ergeb­nis: Die über­wie­gen­de Mehr­heit der Nut­zer woll­te der­ar­ti­ge (lega­le) Zuta­ten nicht. Kla­re Sache also: Das Unter­neh­men stell­te auf­wen­dig die Rezep­tur der Pro­duk­te um und bewarb sie mit den neu­en Eigen­schaf­ten. Ergeb­nis: Der Umsatz brach ein. Was war gesche­hen? Kurz gesagt: Die Ant­wort auf eine hypo­the­ti­sche Fra­ge ist etwas voll­stän­dig ande­res, als eine Kauf­ent­schei­dung an der Kühl­the­ke. Und hier mach­ten sich die höhe­ren Her­stel­lungs­kos­ten der neu­en Pro­dukt­se­rie in Form eines gestie­ge­nen End­kun­den­prei­ses bemerk­bar. In Fol­ge wand­ten sich die preis­be­wuss­ten Kun­den­seg­men­te ab und kauf­ten Wett­be­werbs­pro­duk­te. Der Umsatz sank um 30 %!

Mit einem Test­markt oder einer Test­markt­si­mu­la­ti­on wäre man auf die­sen Effekt bes­ser vor­be­rei­tet gewe­sen. Bei die­sen Ver­fah­ren wird der Preis in die Ent­schei­dung inte­griert. Man darf aber auch noch ande­re Feh­ler­quel­len bzw. Fehl­deu­tun­gen ver­mu­ten. Bei­spiels­wei­se, ob die Fra­ge nach der Akzep­tanz von Zusatz­stof­fen nicht gera­de­zu eine typi­sche sozi­al erwünsch­te Ant­wort pro­vo­ziert. Jeder eini­ger­ma­ßen auf­ge­klärt den­ken­de Kon­su­ment wird sich in einer Umfra­ge wohl kaum als Fan von Glut­amat oder Nitrit­pö­kel­salz outen, wäh­rend der­ar­ti­ges beim Ein­kauf von ihm/ihr schlicht igno­riert wird.

Bes­ser qua­li­ta­ti­ve Ver­fah­ren nutzen

Die quan­ti­ta­ti­ve Markt­for­schung bringt dem Inno­va­tor also in vie­len Fäl­len tat­säch­lich nur begrenz­ten Nut­zen. War­um emp­feh­le ich aber den­noch eine inten­si­ve Nut­zung von Markt­for­schung? Weil ande­re Instru­men­te, die zum Bereich der qua­li­ta­ti­ven, explo­ra­ti­ven, beob­ach­ten­den oder psy­cho­lo­gi­schen Markt­for­schung gehö­ren, extrem wert­vol­le Hin­wei­se lie­fern, die so genann­ten „con­su­mer insights“. Dazu gehö­ren Erkennt­nis­se wie u.a.:

  • wel­che Pro­ble­me die Ziel­grup­pen haben
  • was Ziel­grup­pen sich wirk­lich wün­schen und war­um sie es tun (selbst wenn die Ziel­grup­pe es nicht for­mu­lie­ren kann)
  • wie sie sich fühlen
  • wel­che Gewohn­hei­ten sie haben
  • was sie antreibt
  • was sie hin­dert oder ängstigt
  • wie sie tat­säch­lich mit Pro­duk­ten oder Pro­dukt­ka­te­go­rien umge­hen usw.

Für vie­le der Erkennt­nis­se benö­tigt der ver­sier­te Inno­va­tor übri­gens kei­ne groß ange­leg­ten Stu­di­en, son­dern arbei­tet mit klei­nen Dis­kus­si­ons­grup­pen oder Ein­zel­in­ter­views. Aber auch ande­re Tech­ni­ken kön­nen wert­vol­le Hin­wei­se lie­fern, bei­spiels­wei­se Pro­duk­te zusam­men mit Ziel­grup­pen-Mit­glie­dern aus­pro­bie­ren, Beschwer­de­brie­fe ana­ly­sie­ren, die Ver­wen­der ein Nut­zert­age­buch füh­ren oder auch Bild­col­la­gen erstel­len las­sen. Die Fach­li­te­ra­tur (und natür­lich das Web) nen­nen eine Viel­zahl von qua­li­ta­ti­ven Metho­den. Es soll nicht ver­schwie­gen wer­den, dass es zum einen einer gewis­sen Aus­bil­dung und Erfah­rung in deren Ein­satz bedarf und zum ande­ren auch qua­li­ta­ti­ve Tech­ni­ken exis­tie­ren, die defi­ni­tiv nur von Spe­zia­lis­ten ein­ge­setzt wer­den können.

Ein Bei­spiel aus der Küche: Was kann man aus Beob­ach­tun­gen lernen?

Bei­spiels­wei­se, dass die Ver­wen­der ein Pro­dukt anders nut­zen, als die Her­stel­ler ver­mu­ten. Eine sol­che „anders­ar­ti­ge“ oder „nicht vor­ge­se­he­ne“ Ver­wen­dung war bereits oft Anstoß für ein dis­rup­ti­ves Pro­dukt, den­ken wir nun an die Post-it® von 3M.

Vie­le Jah­re nahm die Rei­ni­gungs­mit­tel­in­dus­trie an, dass man noch deut­lich von einer Markt­sät­ti­gung bei Haus­halts­rei­ni­gern ent­fernt wäre. Die „Rei­ni­ger-Exper­ten“ hat­ten anhand von Mus­ter­haus­hal­ten den Bedarf hoch­ge­rech­net und waren Jahr für Jahr erstaunt, dass sich die­se Men­ge nicht abset­zen ließ. Bis man durch eine teil­neh­men­de Beob­ach­tung erkann­te; wie Haus­frau­en und ‑män­ner nach dem Geschirr­spü­len die Spül­flot­te für ande­re Auf­ga­ben zweck­ent­frem­de­ten. Bei­spiels­wei­se zum Abwi­schen des Her­des, zum Put­zen des Kühl­schranks, für belie­bi­ge Küchen­ober­flä­chen usw. Der ver­meint­li­che feh­len­de Absatz von Haus­halts­rei­ni­gern steck­te in einer nicht inten­dier­ten Ver­wen­dung von Hand­ge­schirr­spül­mit­teln. Die zuneh­men­de Ver­brei­tung der Geschirr­spül­ma­schi­ne mach­te die­ser „Fehl­ver­wen­dung“ dann teil­wei­se ein Ende.

Qua­li­ta­ti­ve For­schungs­ver­fah­ren eig­nen sich auch sehr gut, um Ideen, Kon­zep­te oder Pro­to­ty­pen in einer frü­hen Pha­se am spä­te­ren Nut­zer zu prü­fen. Von einem schnel­len Aus­sor­tie­ren unge­eig­ne­ter Ideen bis zu hilf­rei­chen Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­gen kön­nen vie­le nütz­li­che Ergeb­nis­se erzielt werden.

Das Plä­doy­er:

Machen Sie sich mit den zahl­rei­chen Metho­den der qua­li­ta­ti­ven Markt­for­schung ver­traut und nut­zen Sie deren zum Teil erheb­li­che Bei­trä­ge für den Innovationsprozess.

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